„Frei sprechen“ gilt mittlerweile als das Nonplusultra des professionellen Redens. Doch für bestimmte Situationen gilt: Besser „gut abgelesen“ als „schlecht frei gesprochen“. Hier erfährst Du, wann Du mit Ablesen besser fährst. Auch lernst Du, wie Du trotz Ablesen einen spannenden, lebendigen Vortrag hältst.
Ja, es stimmt: Wenn Du ein/e professionelle/r Speaker*In werden willst, kommst Du um die Kunst der freien Rede kaum herum. Es wird einfach von Dir erwartet, dass Du offen mit dem Publikum kommunizierst und Dich frei auf der Bühne bewegst.
Doch nicht jeder frei gehaltene Vortrag ist professionell: Er kann ausufern, wirr oder schlicht langweilig sein. Und nicht jede abgelesene Rede ist unprofessionell. Aus meiner Erfahrung als Vortragscoach kenne ich 3 Situationen, in denen Du mit Ablesen definitiv besser fährst.
1. Ablesen ist besser, wenn Du eher introvertiert bist
Wenn Du das Bad in der Menge genießt, gerne mit vielen Menschen zusammen bist und Dir das Zusammensein Energie gibt, auch mal spontan vor Menschenmengen trittst, ihnen mehr als 10 Minuten lang irgendwas erzählst und hinterher Applaus erntest – dann bist Du mit hoher Wahrscheinlichkeit eher extrovertiert.
Eher introvertiert bist Du, wenn Dir viele Menschen schnell zu viel werden, wenn Du eher im Alleinsein Deine Kraft und Deine Ideen findest. In diesem Fall bedeutet das freie Sprechen einen vielfach höheren Aufwand an Zeit und Nerven für Dich: Du wirst Deinen Vortrag komplett skripten und dann auswendig lernen wollen. So auswendig, dass Du mit Deinem Material wieder frei wirst und spielen kannst.
Selbst dann wirst Du erst richtig frei wirken, wenn Du den Vortrag drei, vier Mal gehalten hast. Die meisten professionellen Speaker, die ich kenne – ob extro- oder introvertiert – arbeiten genau so. Aber die halten ihren Vortrag auch 50, 60 Mal im Jahr – und das oft ein ganzes Speaker-Leben lang. Da rentiert sich der Aufwand.
Introvertierte möchten Ihre Gedanken lieber ganz genau vorher und alleine fixieren, den sie ziehen live aus dem Publikum kaum Energie oder Inspiration. Du hältst Deinen Vortrag oder Deine Rede nur ein einziges Mal? Dann lohnt es den Aufwand und inneren Stress kaum, der mit dem freien Reden einhergeht. In diesem Fall: Schreib lieber was Tolles und lies ab!
2. Ablesen ist besser, wenn Dir die Zeit fehlt
Selbst wenn Du die größte Rampensau der Welt sein magst: Du wirst vor großem, unvertrauten Publikum nicht länger als 10 Minuten improvisieren können. Ab dann steigt die Gefahr, dass Du Dich verhedderst. Alles ab 10 Minuten Redezeit braucht minutiöse Vorbereitung: Du brauchst Zeit für Struktur, Timing, Kernsätze, einen packenden Anfang, einen mitreißenden Schluss, eine glaubwürdige Story.
Glaub bloß nicht, dass Dich Deine Folien schon retten werden: Dein Publikum spürt, wenn Du an Folien klebst. Von Folien ablesen ist das Patentrezept für langweilige, unprofessionelle Vorträge. Dann lies lieber von Deinem Skript ab – und mach echte, gute Folien mit weniger Text.
Unter Profis gilt die Faustregel: 1 Minute Vortrag = 1 Stunde Vorbereitung. Meiner Erfahrung nach steigt der Zeitaufwand sogar Richtung 1,5–2 Stunden pro Minute, je länger Deine Redezeit ist: Bei 20 Minuten Redezeit mögen 20 Stunden ausreichend sein, bei 40 Minuten Redezeit wirst Du eher 60–80 Stunden brauchen, weil Dein Inhalt komplexer wird.
Wenn Du diese Zeit nicht hast: Schreib lieber was Tolles – oder lass Dir was Tolles schreiben – und lies ab!
3. Ablesen ist besser, wenn Du nicht nur Fans im Publikum hast
Warum sprechen Politiker oder Vorstandsvorsitzende selten frei? Weil jedes Wort von ihnen auf die Goldwaage gelegt wird, weil jeder spontan geäußerte Satz ungewollte Interpretationen und Folgen nach sich ziehen kann.
In diesem Fall ist es besser, sich vorher genau zu überlegen, was man preisgibt und was nicht. In so einer Situation kannst Du gar nicht „frei sprechen“. Dann ist Skript-Ablesen auch die weniger langweilige Option: Du kannst – nach Abwägung aller Risiken – noch Unterhaltsames und Humor mit einbauen, und behältst die Kontrolle.
Also, wenn Du vor Raubtieren oder Haifischen reden musst: Schreib lieber was Tolles – oder lass Dir was Tolles schreiben – und lies ab!
So gelingt Dir professionelles Ablesen für Vorträge und Reden
Du kannst einiges tun, damit das Ablesen nicht öde wird. Auch der Kontakt zum Publikum muss dabei nicht verloren gehen. Dafür erhältst Du nun eine Reihe von Tipps fürs Formatieren Deines Skripts, fürs Markieren Deines Redetextes – und fürs Ablesen selbst:
Tipps fürs Formatieren Deines Skripts
- Drucke auf feste A5-Karteikarten.
Die sind groß genug für eine Minute Text pro Karte und klein genug, dass trotz Karten Dein Gesicht sichtbar bleibt. - Nummeriere die Karten.
Am besten mit großen roten Ziffern. So vermeidest Du ungewollten Slapstick. - Wähle mindestens 14-Punkt-Schriftgröße.
- Wähle als Zeilenabstand mindestens 1,2.
- Kein Blocksatz! Deine Augen nutzen die unterschiedlichen Zeilenlängen unbewusst zur Orientierung – so bleibst Du in der richtigen Zeile.
- Lass eine Leerzeile zwischen den Absätzen.
Tipps fürs Markieren Deines Redetexts
- Überlege Dir, wo eine Pause angebracht ist. Zum Einsinken- Lassen oder Spannung-Steigern.
Markiere diese Stelle mit einem [P].
Oder mit einer leeren Stelle, oder mit einem
Zeilenumbruch.
Was immer Dir am besten gefällt. - Überleg Dir, welche Worte Du betonen möchtest. Unterstreiche sie. Übertreib es aber nicht dabei. Lieber wenige, aber treffende Betonungen.
Tipps fürs Ablesen
- So kannst Du ablesen und gleichzeitig Kontakt zum Publikum halten
Achte auf den Neigungswinkel Deines Kopfes:
Hältst Du Deine Karten eng am Körper und horizontal, geht Dein Kopf fast 90 Grad nach unten. Folge: Du wirkst selbstbezogen, weil in Deine Karten vertieft.
Wenn Du aber Deine Karten weiter vom Körper weg und schräg hältst, neigt sich Dein Kopf vielleicht nur noch um 30 Grad nach unten. Folge: Dein Gesicht bleibt sichtbar, Du wirkst präsent. Und Du kannst zwischendurch viel leichter ins Publikum blicken. Fürs Weiter-Weg-Halten hilft Dir die größere Schriftgröße ab 14 Punkt. Ebenfalls hilfreich: ein Rednerpult, wo Du die Karten im richtigen Winkel ablegen kannst. - Genieße Deine Pausen
Wenn Du an eine markierte Pause kommst, halten inne, denke„Kirschbonbon“– und lies dann weiter.
Viel Erfolg bei Deinem Vortrag!
Armin Jäger ist Vortragscoach in Hamburg. Wenn Du professionell Reden, Vorträge und Präsentationen halten möchtest (oder musst), lohnt sich ein Coaching mit ihm.